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Kanzlei-Blog Ulrich Weber & Partner

Bahnreisezeiten als Arbeitszeit? – Streit zwischen Unternehmen und Gewerbeaufsicht muss durch Verwaltungsgericht entschieden werden

In unserem Blog berichten wir teilweise auch über Urteile „fachfremder“ Gerichtsbarkeiten. So auch in diesem Beitrag. Heute stellt Ihnen Herr Rechtsanwalt Michael Wald ein Urteil des Verwaltungsgerichts (VG) Lüneburgs vom 2. Mai 2023 (3 A 146/22) vorstellen. Es geht um Arbeitsschutz und das Arbeitszeitgesetz. Was gilt hierzu im Bezug auf Bahnreiszeiten?  Dabeistreiten vor Gericht ein Unternehmen und die Gewerbeaufsicht.

 

Der Sachverhalt 

Die Entscheidung des VG Lüneburg spielt im Bereich des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG), also des öffentlich-rechtlichen Arbeitszeitschutzes. Hier wird geregelt, wie lange Arbeitnehmer täglich und wöchentlich maximal arbeiten dürfen, an Arbeitstagen pausieren und zwischen diesen ruhen müssen. Ins Rollen kam dieser Fall durch eine Kontrolle der Gewerbeaufsicht. Die Ar­beitgeberin ist ein Speditionsunternehmen, das sich auf die Führung von Fahrzeugen speziali­siert hat. Dabei setzte sie angestellte Fahrer zu Überführungsfahrten ein. Diese Fahrer fuhren mit der Bahn quer durch ganz Europa zu Abholorten von Fahrzeugen, überführten die Fahr­zeuge an den Zielort und kehrten dann mit der Bahn an ihren Wohnort zurück. Für die Fahrten wurden die Fahrer mit einer BahnCard (1. Klasse) ausgestattet. Die bis zu 12-stündigen Bahnfahrten planten die Beschäftigten selbstständig. Während der Fahrtzeit mussten sie te­lefonisch erreichbar sein und bei Planänderungen gegebenenfalls umdisponieren. Auf der Fahrt führten die Fahrer Equipment wie Firmenhandy, Schutzbezüge zur Nutzung im Überführungsfahrzeug sowie eine mobile Mautbox mit. Ansonsten durften sie ihre Fahrzeit nach eigenem Gusto gestalten, wobei in den Arbeitsverträgen geregelt war, dass die Zeiten der Bahnfahrt nicht als Arbeitszeit gelten. 

Hiergegen schritt die Gewerbeaufsicht ein und erließ eine Anordnung, nach der die Spedition die Reisezeiten als Arbeitszeiten führen sollte. Die Spedition wehrte sich gegen die behördli­che Anordnung zur Aufzeichnung der Fahrzeiten als Arbeitszeit. Da es sich also um einen Ver­waltungsakt handelte, war für diese Klage nicht das Arbeitsgericht, sondern das Verwaltungs­gericht zuständig.  

In dem Verfahren stritten die Spedition und die Gewerbeaufsicht darüber, wie belastend oder entspannend diese Zugfahrten quer durch Europa für die Fahrer waren. Faktoren wie Ver­spätung, Umstiege, erhöhte Auslastung, Geräuschbelastungen etc. wurden diskutiert. Auch darüber, welche Rolle die Mitnahme der Gegenstände spielten. Im Kern argumentierte die Spedition mit der Begründung, die Arbeitnehmer könnten ihre Zeit während der Bahnfahrt frei gestalten und erbrächten damit nur ein „Freizeitopfer“. Auch eine dem Gesundheitsschutz zuwiderlaufende Belastung sei nach der vom Bundesarbeitsgericht entwickelten „Beanspru­chungstheorie“ nicht gegeben.  

Für den Bereich von Dienstreisen hat die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung eine maßgebli­che Unterscheidung ausgebildet: 

Wegezeiten: Dabei handelt es sich um Zeiten, die Beschäftigte aus eigener Initiative aufwen­den, um die Arbeit aufzunehmen. Sie liegen klassischerweise vor Aufnahme der Arbeitstätig­keit, betreffen also den Weg zum Arbeitsplatz, z. B. von der Wohnung zum Betrieb. Dabei handelt es sich grundsätzlich nicht um Arbeitszeit. 

Reisezeiten: Dabei handelt es sich um Zeiten, die Beschäftigte auf Arbeitgeber-Initiative auf­wenden, um sich an einen Ort außerhalb ihres gewöhnlichen Arbeitsplatzes zu bewegen. Ob Reisezeiten dabei als Arbeitszeiten gelten, wird im Wege einer Einzelfallprüfung festgestellt und zwar anhand der vom BAG entwickelten Beanspruchungstheorie. Bislang hat das BAG sol­che Reisezeiten restriktiv nur dann als Arbeitszeit eingestuft, wenn (potentiell) gesundheitli­che Belastungen für Arbeitnehmer ausgehen, wie beispielsweise Autofahrten, bei denen Be­schäftigte das Auto selbst fahren oder als Beifahrer auf den Verkehr achten müssen. Dem ge­genüber zählen Reisen mit Flugzeug, Bahn oder Taxi dann nicht als Arbeitszeit, sofern Beschäf­tigte während der Reise keine zusätzlichen Tätigkeiten für den Arbeitgeber erbringen, wie etwa E-Mails bearbeiten oder Präsentationen erstellen. 

Dieser Beanspruchungstheorie hat der EuGH die sogenannte „Freizeitwerttheorie“ entgegen­gestellt. Der EuGH prüft, wie stark der Freizeitwert von Beschäftigten durch die geforderte Tätigkeit betroffen ist. Gibt also der Arbeitgeber einen Aufenthaltsort vor oder müssen die Beschäftigten sich außerhalb ihres sozialen Umfelds aufhalten, stuft der EuGH solche Zeiten regelmäßig als Arbeitszeit ein. Nach dieser Auffassung des EuGH ist von einem viel weiteren Arbeitszeitbegriff aufzugehen.  

Das alles ließ sich das Verwaltungsgericht in aller Breite vortragen und sogar gutachterlich bewerten. In seiner Entscheidung hat das VG die Beanspruchungstheorie des BAG mit einem bemerkenswerten Fehlerstrich beiseite gewischt und sich in der Begründung unmittelbar auf die europäische Arbeitszeitrichtlinie gestützt. Dabei ist das Verwaltungsgericht zu der Ent­scheidung gekommen, dass im vorliegenden Fall die Reisezeit mit der Bahn als Arbeitszeit zu bewerten ist. Es führt weiter aus, dass es nach dem europäischen Arbeitszeitrecht lediglich zwei Zustände gibt: entweder Arbeitszeit oder Ruhezeit. Dazwischen gebe es nichts. In der Gesamtschau der Umstände kam das VG zu dem Ergebnis, dass bei den Bahnreisen der Über­führungsfahrer der Arbeitszeitcharakter überwiege. Maßgeblich für diese Einschätzung war vor allem der Umstand, dass es sich bei den Bahnreisen nicht um Fahrten zu einer festen Be­triebsstätte handele. Die Fahrten seien bereits Teil der eigentlichen Leistungserbringung an ständig wechselnden Orten. Auch führten die teils sehr langen Bahnreisen zu einer maßgebli­chen Einschränkung der Freizeit der Fahrer, über ihre Zeit selbst zu bestimmen. Nach Auffas­sung des Verwaltungsgerichts unterlägen die Fahrer während der Fahrzeiten bereits in vollem Umfang der Weisungsbefugnis der Spedition. So müssten sie sich während der Fahrzeit zur Verfügung halten und telefonisch erreichbar sein, um gegebenenfalls umzudisponieren, die Fahrt abzubrechen oder einen anderen Kunden aufzusuchen, auch wenn dieses nur selten vorkäme. Sie könnten sich dem Zugriff ihres Arbeitgebers nicht entziehen. Auch müssten sie sich außerhalb ihres familiären und sozialen Umfeldes aufhalten und selbst wenn sie wäh­rend der Zugfahrten, essen, trinken oder schlafen könnten.

  

Bewertung für die Praxis 

Das Thema Arbeitszeiterfassung ist aktuell aufgrund der Entscheidung des Bundesarbeitsge­richts vom 13. September 2022 (1 ABR 22/21) in aller Munde. Das Bundesarbeitsministerium hat zwischenzeitlich im April einen Referentenentwurf zur Novellierung des Arbeitszeitgesetzes vorgelegt.

Das Urteil wird ein Schlaglicht auf die unglaublich vielfältigen Fallgestaltungen bei der Bestim­mung der Arbeitszeit. In der modernen Arbeitswelt werden die Beschäftigungsverhältnisse vielgestaltiger und mögliche Fallkonstellationen komplizierter.

Zukünftig dürften auch Fallkonstellationen wie der hier vorliegenden eine verpflichtende Ar­beitszeiterfassung nach sich ziehen. Es ist davon auszugehen, dass die zuständigen Behörden einen strengeren Blick auf die betrieblichen Verhältnisse werfen werden.

 Doch welche Empfehlungen können derzeit abgegeben werden?

 

Für Beschäftigte 

  • Arbeitszeiten und Ruhezeiten sollten sorgfältig dokumentiert werden.

o   Neben den genauen Zeiten der Dienstreise sollte auch der Grund der Reise und die konkrete Reiseanweisung dokumentiert werden. 

  • Sofern eine Dienstreise unter Verletzung des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) angewiesen wird, sollte einer gegebenenfalls rechtwidrigen Anweisung zunächst Folge geleistet werden.

o   Zum einen besteht noch keine Rechtssicherheit zum Thema „Reisezeit als Arbeitszeit“.

o   Zum anderen ist es sowieso ratsam, auch unwirksamen Weisungen nachzukommen, bis deren Unwirksamkeit gerichtlich festgestellt wurde.

 

Für Arbeitgeber/Unternehmen  

  • Auch hier ist es empfehlenswert, die genauen Reisezeiten, den Grund und die konkre­ten Reiseanweisungen zu dokumentieren. 

  • Bestehende Arbeitszeitregelungen und Anweisungen sind dahingehend zu prüfen, ob entsprechende Ruhe- und Arbeitszeiten eingehalten werden. 

  • Dann können unangenehme Verfahren wie dasjenige bei dem VG Lüneburg ebenso vermieden werden wie etwaige Bußgelder. 

  • Sofern möglich, sollten Beschäftigte angewiesen werden, auf der Zufahrt Arbeitsauf­gaben zu erledigen; gegebenenfalls kann ihnen hierfür auch ein mobiles Endgerät (Lap­top/Tablett) zur Verfügung gestellt werden.

  • Die notwendige Unterstützung sowie Ressourcen sind folglich zur Verfügung zu stellen, damit die Beschäftigten die Reisezeit effizient nutzen können.

 

Fazit

Trotz aller Aufregung über dieses Urteil, sollte es nicht überbewertet werden. Das VG Lüne­burg hat keine pauschale Aussage zu Bahnfahrten und schon gar nicht zur grundsätzlichen Einstufung von Dienstreisen als Arbeitszeit getroffen. Es darf auch nicht übersehen werden, dass es sich bei der Entscheidung des VG Lüneburg um ein erstinstanzliches Urteil handelt, welches nur zwischen den Beteiligten wirkt. Allerdings ist davon auszugehen, dass im Zustän­digkeitsbereich des VG Lüneburgs mit einer einheitlichen Umsetzung dieser Entscheidung durch die Verwaltungsbehörden zu rechnen ist. Inwieweit sich dies darüber hinaus ebenso entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Nicht unberücksichtigt bleiben darf im übrigen, dass mit der zukünftigen Ausweitung der Arbeitszeiterfassung die Bedeutung der Gewerbeaufsichts­ämter wachsen wird.

 

Michael Wald, Fachanwalt für Arbeitsrecht