Das Ende der nicht anrechenbaren Vorerkrankung?
Die Erkenntnis sickert erst allmählich durch: Bereits im Januar 2023 hat das Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 18.01.2023 – 5 AZR 93/22) Bemerkenswertes zur sog. Darlegungslast bei Fortsetzungserkrankungen entschieden.
Dass der auf sein Arbeitsentgelt klagende Arbeitnehmer jeweils arbeitsunfähig gewesen ist, war nicht das Problem, sondern unstreitig. D.h. es ging in diesem Verfahren nicht etwa um den sog. Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (dazu näher Blogbeitrag vom 23.08.2023 / Rechtsanwalt Christian Kaiser).
Stand die jeweilige Arbeitsunfähigkeit des klagenden Arbeitnehmers nicht in Frage, so stritt man sich darüber, ob nach Eintritt einer erneuten Arbeitsunfähigkeit eine sog. anrechenbare Vorerkrankung die Lohnfortzahlung ausschloss oder zumindest zeitlich begrenzte. Rechtlicher Hintergrund hierzu ist § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG), wonach der Arbeitnehmer im Fall erneuter Arbeitsunfähigkeit seinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die Dauer von sechs Wochen dann nicht verliert, wenn er vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens sechs Monate nicht in Folge derselben Krankheit arbeitsunfähig gewesen ist.
Woher soll der Arbeitgeber nun wissen, ob die erneute Arbeitsunfähigkeit dieselbe Erkrankung ist, die bereits Ursache einer Arbeitsunfähigkeit in den letzten sechs Monaten war?
Antwort: Arbeitgeber haben sich bisher schlicht an den Angaben der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung orientiert und die Entscheidung, zahlen oder nicht zahlen, davon abhängig gemacht, ob auf der Bescheinigung das Kreuzchen bei „Erst“- oder „Folgebescheinigung“ notiert ist. Ebenso kann und konnte er bei der jeweiligen Krankenkasse in Erfahrung bringen, ob eine anrechenbare Vorerkrankung vorliegt oder nicht. Näheres gab und gibt allerdings die Krankenkasse nicht preis.
Das ist nun anders. Nach der Entscheidung des BAG vom 18.01.2023 muss nun der Arbeitnehmer auf Verlangen des Arbeitgebers für den gesamten zurückliegenden streitgegenständlichen Zeitraum darlegen, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen sich wie auf seine Arbeitsfähigkeit ausgewirkt haben und zur stichhaltigen Aufklärung seine behandelnden Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbinden. Der Arbeitnehmer müsse „laienhaft“ bezogen auf den gesamten maßgeblichen Zeitraum schildern, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Beschwerden mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden. Die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung genüge nicht mehr. Ebenso wenig ermögliche die Mitteilung der Krankenkasse zum Nichtvorliegen einer Fortsetzungserkrankung keine genügende Kontrolle.
Mit Blick auf den Datenschutz führte das BAG aus, die Verarbeitung von Daten zu Erkrankungen und gesundheitlichen Beschwerden, die in der Vergangenheit zur Arbeitsunfähigkeit geführt haben, sei im gerichtlichen Verfahren über Entgeltfortzahlungsansprüche wegen Krankheit nach der DSGVO zulässig.
In der Konsequenz bringt diese Entscheidung für den Arbeitgeber Klarheit, für Arbeitnehmer u.U. erhebliche Probleme.
Zunächst einmal ist zu sehen, dass vermutlich die Krankenkasse aufgrund der ihr vorliegenden Unterlagen für sich zu dem Ergebnis kommen wird, nicht sie, sondern der Arbeitgeber müsse erneut oder weiterhin zahlen. Krankengeld wird sie jedenfalls zunächst verweigern.
Der Arbeitgeber wiederum hält seine Zahlung solange zurück, bis ihn der Arbeitnehmer – wie geschildert – über seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen aufgeklärt und hierzu die behandelnden Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbunden hat.
Das muss nun alles sehr schnell gehen, denn er bekommt ja alldieweil weder von seiner Krankenkasse noch von seinem Arbeitgeber Geld. Folglich muss er schleunigst seine Ärzte aus den letzten sechs Monaten erneut aufsuchen und sie darum bitten, ihn – entbunden von der Schweigepflicht gegenüber dem Arbeitgeber - zu unterstützen.
Sollte es zu einem Rechtsstreit vor dem Arbeitsgericht über die Ansprüche auf Entgeltfortzahlung kommen, wird der Arzt vor Gericht Rede und Antwort stehen müssen und die Frage, ob dieselbe oder eine andere Erkrankung vorlag, näher erläutern. Bisher ging man davon aus, der Arzt sei allein danach zu befragen, ob oder ob nicht von einer Fortsetzungserkrankung auszugehen sei, ohne dies inhaltlich näher erläutern zu müssen. Das ist nun anders.
Während des Rechtsstreits wartet der Arbeitnehmer weiter auf sein Geld.
Auf das Engagement und die Hilfsbereitschaft seiner Ärzte ist der Arbeitnehmer daher dringend angewiesen. Zunächst die Ärzte jahrelang auf Auskunft zu verklagen, ist sicherlich keine ratsame Option. Man kann dann hoffen, dass Ärzte nicht zunächst danach fragen, wer und in welcher Höhe diese besondere Leistung honoriert. Der Arbeitgeber wird es sicherlich nicht tun, die Krankenkasse ebenso wenig.
Manche Arbeitgeber gehen nun noch einen Schritt weiter und schauen sich die Vergangenheit an. Sie werfen die Frage auf, ob nicht im Fall bereits zurückliegender Arbeitsunfähigkeitszeiträume und deren Bezahlung unerkannt zu viel geleistet worden ist und damit der Arbeitnehmer verpflichtet wäre, zu Unrecht erhaltene Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu erstatten. Wenn dann der Arbeitnehmer nicht im Nachhinein die von ihm abverlangten Auskünfte beibringt, besinnen sich diese Arbeitgeber darauf, bis zur Pfändungsfreigrenze mit ihren tatsächlich bestehenden oder vermeintlichen Ansprüchen auf Rückzahlung zu Unrecht erhaltenen Arbeitsentgeltes aufzurechnen. Dann muss der Arbeitnehmer seinem Geld hinterher klagen.
Man wird die weitere Entwicklung im Auge behalten müssen.