Fach- und Arbeitskräftemangel in Deutschland – Neue Chancen durch das neue Einwanderungsgesetz?
In vielen Wirtschaftszweigen ist die Antwort auf die Frage, was derzeit das größte Problem ist immer dieselbe: „Wir finden niemanden, der die Arbeit macht.“ Hintergrund ist der in Deutschland bestehende Fachkräftemangel. Wobei Fachkräftemangel tatsächlich nur bedingt die richtige Formulierung ist. Denn es fehlen tatsächlich Arbeitskräfte in allen Bereichen und allen (Aus-)Bildungshintergründen. Eine Lösung könnten internationale Fachkräfte sein, die dann in Deutschland tätig werden. Um dies zu erleichtern hat der Bundestag weitreichende Änderungen im Einwanderungsrecht beschlossen. Einen Überblick über die Neuerungen und auch die Hürden insgesamt liefert Herr Rechtsanwalt Henning Meier.
Wie sieht das Problem aus?
Alleine der Bestand der bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten offenen Arbeitsstellen in Deutschland lag 2022 mit 844.796 auf einem Höchststand der letzten zehn Jahre. Für 2023 sieht es nicht besser aus. Berechnungen des Instituts der Deutschen Wirtschaft zur Folge lag im Dezember letzten Jahres die sogenannte Fachkräftelücke sogar bei 533.000. Diese Zahl betrifft nicht nur die bei der Bundesagentur für Arbeit bekannten offenen Arbeitsstellen, sondern soll sämtliche Stellen darstellen, die rein rechnerisch nicht besetzt werden konnten, da es keine passenden qualifizierten Arbeitslosen für sie gab.
Hinzu kommt, dass in den Jahren bis 2035 ca. 30 % der bisherigen Erwerbstätigen in Rente gehen wird. Die sog. „Babyboomer“ machen einen sehr erheblichen Anteil der bisherigen Erwerbstätigen aus. Wer alles als Babyboomer gilt, wird unterschiedlich bewertet. In Deutschland werden die im Zeitraum von 1955 bis 1969 Geborenen von Statistikern als geburtenstarke Jahrgänge bezeichnet. Von diesen gehen nun sehr viele in den kommenden 10-12 Jahren in Rente und verlassen somit (wahrscheinlich) den Arbeitsmarkt. Die ohnehin schon große Lücke der Fach- und Arbeitskräfte wird weiter aufgerissen und deutlich größer. Zwar kommen natürlich auch neue Generationen und junge Beschäftigte auf den Arbeitsmarkt. Aber die Zahlen belegen, dass diese die in Rente gehenden „Babyboomer“ nicht einmal ansatzweise ersetzen werden können.
Beispielsweise geht das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) von einer noch größeren Lücke aus. Bis 2035 gehen dem deutschen Arbeitsmarkt einer Studie zufolge sieben Millionen Arbeitskräfte verloren, sofern nicht Maßnahmen ergriffen werden - indem laut IAB beispielsweise Ältere länger im Job gehalten, die berufliche Entwicklung von Frauen gestärkt oder Zuwanderer angezogen werden. Da das IAB davon ausgeht, dass „netto“ 400.000 zugewanderte Fach- und Arbeitskräfte gebraucht werden, müssten ca. 1.400.000 Menschen pro Jahr zu uns kommen, da ca. eine Million Deutschland auch pro Jahr verlässt. Klar ist also, dass die Fach- und Arbeitskräfte ein wichtiger Baustein in er Bekämpfung des Fachkräftemangels sind.
Welche Hürden gibt es grundsätzlich bei der Beschäftigung ausländischer Fach- und Arbeitskräfte?
Ausländisch ist nicht gleich ausländisch. Dank der Europäischen Union (EU) ist der Zuzug und die Beweglichkeit auf dem Arbeitsmarkt erheblich einfacher geworden. Staatsangehörige der EU sowie Norwegen, Liechtenstein, Island und der Schweiz brauchen keine Zustimmung zur Beschäftigung einzuholen (uneingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit). Hierbei ist der bürokratische Aufwand also überschaubar.
Anders ist dies bei Menschen aus Nicht-EU-Ländern. Hier traf bislang und steht immer noch Unternehmen, die ausländische Kräfte beschäftigen wollen, genau wie Menschen, die zur Arbeit nach Deutschland kommen wollen, oftmals die Bürokratie sehr im Wege.
Eine genaue Darstellung würden den Rahmen dieses Beitrags leider sprengen. Das deutsche Recht unterschied noch einmal sehr im Einzelnen, je nachdem aus welchen Ländern die potentiellen Beschäftigten kommen. So gibt es „positive“ und „negative Drittstaaten“, es gibt aber auch „Best Friends“-Staaten, nur um ein paar Beispiele zu nennen. Einfach so ausländische Beschäftigte anheuern oder kurzfristig Ersatz im Ausland suchen? Selbst Menschen, die bereits seit 10 Jahren oder mehr hier sind, versperrt(e) das deutsche Recht und die Bürokratie einen unkomplizierten Einsatz, je nachdem welchen Aufenthaltstitel diese Personen hatten. Unternehmen, die trotzdem diesen Weg gehen wollten, brauchten kundigen Rechtsrat, Ausdauer und starke Nerven.
Während kurze Aufenthalte bis zu 90 Tage noch vergleichsweise einfach zu gestalten waren, waren längere Aufenthalte sehr komplex vorzubereiten. Das Visum muss grundsätzlich vor der Einreise bei der zuständigen deutschen Auslandsvertretung beantragt werden. Vorzulegen für ein Arbeitsvisum sind aussagekräftige Unterlagen zur Qualifikation sowie zur beabsichtigten Tätigkeit (z. B. konkretes Arbeitsplatzangebot, Stellenbeschreibung, Muster des Arbeitsvertrags) sowie auch Unterlagen zu der geplanten Unterkunft in der Bundesrepublik Deutschland (z. B. Mietvertrag o. ä.). Auch das Visumantragsformular für einen langfristigen Aufenthalt (über 3 Monate) erhalten Antragsteller kostenlos von der jeweiligen Auslandsvertretung.
Das deutsche Aufenthaltsgesetz (AufenthG) kennt eine Vielzahl von verschiedenen Aufenthaltstiteln. Bei manchen ist die Aufnahme von Arbeit sehr unkompliziert, wie bspw. der Niederlassungserlaubnis ( §9 AufenthG) oder dem Daueraufenthalt-EU (§9a AufenthG), bei anderen ist es bzw. war es bislang nahezu unmöglich, z.B. bei „geduldeten“ Menschen (§ 60a AufenthG).
Erste deutliche Verbesserungen an diesem schwierigen Weg bot und bietet die „Bluecard“ der EU. So besteht für Akademikerinnen und Akademiker mit einem anerkannten Hochschulabschluss seit dem 1. August 2012 ein erleichterter Arbeitsmarktzugang über die „Blaue Karte EU“. Für diese ist neben dem Nachweis der Qualifikation lediglich ein Nachweis über ein konkretes Arbeitsplatzangebot erforderlich, bei dem ein jährliches Bruttogehalt in Höhe von mindestens 56.400 Euro (2022) gezahlt wird. Eine Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit ist nicht erforderlich.
Für Fachkräfte aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik sowie Ärztinnen und Ärzte gelten die Bestimmungen bzgl. der „Blauen Karte EU“ auch dann, wenn sie genauso viel verdienen wie vergleichbare inländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, mindestens jedoch 43.992 Euro (2022). In diesem Fall muss die Bundesagentur für Arbeit der Beschäftigung allerdings zustimmen.
Dieser Bereich, der von der Blauen Karte erfasst ist, ist aber sehr beschränkt. Daher erfolgten später auch noch separate Lockerungen für weitere Berufe, wie beispielsweise der Pflege. Dennoch blieb ein großer Erfolg aus. Die Lücke wächst weiter.
Was wurde im Sommer 2023 beschlossen? Wird das Problem gelöst?
Im Juni 2023 hat der Bundestag nun Maßnahmen gegen den Fach- und Arbeitskräftemangel beschlossen. Dazu gehören Anreize für qualifizierte Zuwanderer, Perspektiven für abgelehnte Asylbewerber sowie die Stärkung der Aus- und Weiterbildung.
Doch was genau hat der Bundestag im Wesentlichen zu der Zuwanderung von Fach- und Arbeitskräften beschlossen? Das Bundesinnenministerium spricht selbst von einem „Drei-Säulen-Modell“ oder auch drei Wegen, die es erleichtern sollen, nach Deutschland zur Arbeit einzureisen.
· Qualifikation: Wer einen Abschluss hat, soll künftig jede qualifizierte Beschäftigung ausüben können.
· Erfahrung: Wer mindestens zwei Jahre Berufserfahrung und einen im Herkunftsland staatlich anerkannten Berufsabschluss hat, soll als Arbeitskraft einwandern können. Der Berufsabschluss muss künftig nicht mehr in Deutschland anerkannt sein – das bedeutet weniger Bürokratie und damit kürzere Verfahren.
· Potenziale: Neu eingeführt wird eine Chancenkarte zur Arbeitssuche, die auf einem Punktesystem basiert. Zu den Auswahlkriterien gehören Qualifikation, Deutsch- und Englischkenntnisse, Berufserfahrung, Deutschlandbezug, Alter und mitziehende Lebens- oder Ehepartner. (Quelle: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2023/06/fachkraefteeinwanderungsgesetz-bt.html)
Die geplanten Änderungen sind zeitlich gestaffelt. Sie treten November 2023 (Phase 1), März 2024 (Phase 2) und Juni 2024 in Kraft.
November 2023
Fachkräfte mit Hochschulabschluss aus Drittstaaten können leichter mit einer Blauen Karte EU nach Deutschland einwandern. Gehaltsgrenzen werden abgesenkt, der Kreis der Personen ausgedehnt, die Liste der Berufe erweitert, die kurz- und langfristige Mobilität ermöglicht und der Familiennachzug erleichtert. IT-Spezialisten können eine Blaue Karte EU auch ohne Abschluss erhalten, wenn sie entsprechende Berufserfahrung haben.
Fachkräfte mit Berufsausbildung oder akademischer Ausbildung haben Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis, wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind. Fachkräfte mit einem qualifizierten Berufsabschluss oder Hochschulabschluss dürfen jede qualifizierte Beschäftigung im nicht reglementierten Bereich ausüben. Ausbildung und Beschäftigung müssen dabei nicht mehr im Zusammenhang stehen. Außerdem wird die Beschäftigung von Berufskraftfahrerinnen und Berufskraftfahrern vereinfacht.
März 2024
Thema berufliche Anerkennung: Dies betrifft Menschen, die noch nicht die Qualifikation haben, die für den angestrebten Beruf benötigt wird. Wer an einer Anpassungsqualifizierung oder Ausgleichsmaßnahme in Deutschland teilnimmt, kann dafür einreisen und künftig bis zu maximal drei Jahre bleiben. Gleichzeitig kann die angehende Fachkraft eine Nebenbeschäftigung von bis zu 20 Stunden in der Woche ausüben.
Der Grundsatz man benötigt zunächst das Visum oder eine Anerkennung und kann erst dann einreisen, wird teilweise durchbrochen. Mit einer Anerkennungspartnerschaft können Personen aus Drittstaaten künftig zuerst einreisen und dann das gesamte Anerkennungsverfahren in Deutschland durchführen: Dazu verpflichten sich die angehende Fachkraft und ihr Arbeitgeber, die Anerkennung nach der Einreise zu beantragen und das Verfahren einschließlich Qualifizierung aktiv zu betreiben. Der Aufenthalt ist zunächst für ein Jahr möglich und kann auf bis zu drei Jahre verlängert werden.
Auch für eine Qualifikationsanalyse kann die angehende Fachkraft künftig einreisen und bis zu sechs Monate bleiben.
Personen mit berufspraktischer Erfahrung können künftig für eine Beschäftigung in allen nicht reglementierten Berufen einreisen. Voraussetzung sind ein qualifizierter, im Ausbildungsstaat anerkannter Berufs- oder Hochschulabschluss und mindestens 2 Jahre Erfahrung im angestrebten Beruf. Alternativ zu einem staatlich anerkannten Abschluss ist unter bestimmten Voraussetzungen ein Abschluss einer deutschen Auslandshandelskammer ausreichend. Die formale Anerkennung der Berufsqualifikation in Deutschland ist nicht erforderlich. IT-Spezialisten brauchen auch weiterhin keinen Abschluss.
Weitere Änderungen betreffen u.a. den Arbeitsmarktzugang von Pflegehilfskräften, die Niederlassungserlaubnis für ausländische Fachkräfte, Erleichterungen beim Familiennachzug sowie die Beschäftigung von Studierenden und Auszubildenden.
Juni 2024
Einführung der „Chancenkarte“ findet statt. Personen aus Drittstaaten können künftig mit der neuen Chancenkarte zur Arbeitsplatzsuche einreisen. Fachkräfte mit voller Anerkennung erhalten die Chancenkarte ohne weitere Voraussetzungen. Alle anderen müssen einen qualifizierten, im Ausbildungsstaat anerkannten Berufs- oder Hochschulabschluss nachweisen. Alternativ ist unter bestimmten Voraussetzungen ein Abschluss einer deutschen Auslandshandelskammer möglich. Zudem sind entweder einfache deutsche (Niveau A1 GER) oder englische Sprachkenntnisse (Niveau B2 GER) erforderlich. Darüber hinaus müssen mindestens 6 Punkte gemäß einem Punktesystem erreicht werden. Punkte werden u.a. für die berufliche Qualifikation, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung, Deutschlandbezug und Alter vergeben. Auch hierbei kann die Berufsanerkennung eine Rolle spielen: Fachkräfte mit teilweiser Anerkennung erhalten hierfür 4 Punkte.
Für Unternehmen, welche ausländische Fachkräfte beschäftigen wollen und diese rechtssicher auf längere Zeit an sich binden wollen, stellen sich neben den bekannten arbeitsrechtlichen Fragestellungen auch Fragen aus dem Ausländer- und Verwaltungsrecht. Leider ist mit diesen Fragestellungen immer auch ein hoher Bürokratieaufwand verbunden. Auch nach den Gesetzesänderungen bleibt es alles andere als einfach. Der Eindruck bleibt, dass man Zuwanderung – egal zu welchem Zweck – gar nicht möchte. Es bedarf daher eine umfassenden Beratung in all diesen Themen, um effektiv ausländischen Menschen die Beschäftigung zu ermöglichen. Andernfalls drohen Sanktionen sowohl für das Unternehmen, als auch für die mit Hoffnungen nach Deutschland gereisten Personen oder es droht, dass die Beschäftigung trotz erheblichem Einsatz nicht durchgeführt werden kann.