Die zehn wichtigsten Kündigungsentscheidungen des Bundesarbeitsgerichts aus 2023
Der bevorstehende Jahreswechsel gibt Anlass für einen Rückblick auf die Kündigungsrechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Dessen 10 wichtigste Urteile waren nach meiner Auswahl im Jahr 2023 die folgenden Entscheidungen:
1. Fehlerhafte Sozialdaten bei der Betriebsratsanhörung
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 28. Februar 2023 (2 AZR 194/22) befasst sich mit der Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung. Dem Kläger wurde als Kündigungsgrund vorgeworfen, dass er den Personaldisponenten der Beklagten und dessen Familie bedroht hat. Bei der Betriebsratsanhörung gab der Arbeitgeber allerdings teilweise falsche Sozialdaten an. Er teilte nämlich versehentlich mit, der Arbeitnehmer sei ledig und kinderlos. Dem Betriebsrat war aber bekannt, dass der Kläger verheiratet ist und ein Kind hat und widersprach der beabsichtigten Kündigung daher mit Verweis auf diese Unterhaltspflichten. Der Kläger hat gemeint, die Kündigung sei wegen der fehlerhaften Unterrichtung des Betriebsrats unwirksam. Das Bundesarbeitsgericht sah dies anders und bestätigte die Wirksamkeit der Kündigung: Dem Betriebsrat waren ohne das Erfordernis eigener Nachforschungen dessen richtige Sozialdaten zuverlässig bekannt. Der Betriebsrat ist durch die abweichenden Angaben im Unterrichtungsschreiben nicht verunsichert worden. Vielmehr hat er den beabsichtigten Kündigungen gerade auch unter Hinweis auf dessen richtige Sozialdaten (Familienstand und Unterhaltspflichten) widersprochen. Der Betriebsrat konnte daher aufgrund des bei ihm bestehenden Kenntnisstands sachgerecht zur Kündigungsabsicht Stellung nehmen. Damit wurde den Zwecken des Anhörungsverfahrens uneingeschränkt genügt.
2. Unternehmerische Entscheidung zur Kündigung
Das Bundesarbeitsgericht hat in der Entscheidung vom 28. Februar 2023 (2 AZR 227/22) die Revision des gekündigten Klägers zurückgewiesen. Der Kläger hatte gegen eine betriebsbedingte Kündigung mit der Argumentation geklagt, dass die Unternehmerentscheidung allein das Ziel verfolgte, ihm kündigen zu können. Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass die Kündigung aus dringenden betrieblichen Gründen sozial gerechtfertigt war. Ein dringendes „betriebliches“ Erfordernis ist gegeben, wenn aufgrund der unternehmerischen Entscheidung ein Bedürfnis für die Beschäftigung des Arbeitnehmers im Betrieb entfallen ist. Der Arbeitgeber ist grundsätzlich nicht gehalten, nicht mehr benötigte Arbeitsplätze und Arbeitskräfte weiterhin zu besetzen bzw. zu beschäftigen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die dem Wegfall des Beschäftigungsbedürfnisses zugrunde liegende unternehmerische Entscheidung ihrerseits, beispielsweise aus wirtschaftlichen Gründen, ebenfalls „dringend“ war oder die Existenz des Unternehmens auch ohne sie nicht gefährdet gewesen wäre. Das Kündigungsschutzgesetz schreibt nicht eine bestimmte Organisationsform fest. Der Arbeitgeber ist nicht gehindert, auch wirtschaftlich nicht zwingend notwendige Organisationsentscheidungen zu treffen. Es ist nicht Sache der Gerichte, eine „bessere“ oder „richtigere“ betriebliche Organisation vorzugeben.
3. Arbeitsangebot, Verzugslohn und fristlose Kündigung
Das Bundesarbeitsgericht hat am 29. März 2023 (5 AZR 255/22) entschieden, dass ein Arbeitgeber, der einem Arbeitnehmer nach einer unwirksamen fristlosen Kündigung eine Prozessbeschäftigung anbietet, ohne tatsächlich eine solche Beschäftigung zu beabsichtigen, sich in Annahmeverzug befindet. Der Arbeitgeber ist dann verpflichtet, dem Arbeitnehmer die Vergütung für die Zeit des Annahmeverzugs zu zahlen. Hintergrund war hier, dass der Arbeitgeber (fristlos) gekündigt hatte, aber offenbar selbst nicht von der Wirksamkeit seiner Kündigung überzeugt war. Jedenfalls bot derselbe Arbeitgeber für die Dauer der schwebenden Kündigungsschutzklage dem gekündigten Arbeitnehmer bei ihm die Fortbeschäftigung an, was das Gericht dem Arbeitgeber als ernsthafte Offerte nicht abnahm.
4. Probezeitkündigung (Wartezeitkündigung) und Maßregelungsverbot
Das Bundesarbeitsgericht hat am 30. März 2023 (2 AZR 309/22) entschieden, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses in der Probezeit (Wartezeit in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses) einer Medizinischen Fachangestellten nicht gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB verstößt. Die Klägerin hatten die Impfangebote der Beklagten nicht wahrgenommen und wurde daraufhin gekündigt. Die Revision der Klägerin gegen blieb ohne Erfolg: Zum Schutz von Patienten und der übrigen Belegschaft vor einer Corona-Infektion ist eine Probezeitkündigung deswegen nicht maßregelnd.
5. Kein Verwertungsverbot bei offener Videoüberwachung
Das Bundesarbeitsgericht hat am 29. Juni 2023 (2 AZR 296/23) entschieden, dass in einem Kündigungsschutzprozess grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung besteht, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Der Kläger war bei der Beklagten zuletzt als Teamsprecher in der Gießerei beschäftigt. Die Beklagte wirft ihm vor, an einem Samstag eine sog. Mehrarbeitsschicht in der Absicht nicht geleistet zu haben, sie gleichwohl vergütet zu bekommen. Nach dem übereinstimmenden Vortrag beider Parteien hat der Kläger zwar an diesem Samstag zunächst das Werksgelände betreten. Die auf einen anonymen Hinweis hin erfolgte Auswertung der Aufzeichnungen der durch ein Hinweisschild ausgewiesenen und auch sonst nicht zu übersehenden Videokamera zum Werksgelände ergab nach dem Vorbringen der Beklagten aber, dass der Kläger das Gelände vor Schichtbeginn wieder verlassen hat. Ein prozessuales Verwertungsverbot im Hinblick besteht bei einer solchen (offenen) Videoüberwachung nicht, so das Bundesarbeitsgericht.
6. Interessenausgleich mit Namensliste
Die erhebliche Relevanz eines Interessenausgleichs mit Namensliste betont das Bundesarbeitsgericht mit seinem Urteil vom 17. August 2023 (6 AZR 56/23), was in meinem Ranking der zehn wichtigsten Entscheidungen zum Kündigungsrecht zu einem Platz unter den Top 3 im Jahr 2023 führt. Im Streitfall hatte der Betriebsrat im Rahmen eines Insolvenzverfahrens mit dem Arbeitgeber (Insolvenzverwalter) über eine beabsichtigte Restrukturierung mit Entlassungen verhandeln müssen, schließlich einen Interessenausgleich mit Namensliste mit ihm abgeschlossen. Ist eine Betriebsänderung iSd. § 111 BetrVG geplant und wird mit dem Betriebsrat darüber ein Interessenausgleich mit Namensliste geschlossen, wird - nämlich dann mit nur noch sehr geringer gerichtlicher Prüfungstiefe, wie das Bundesarbeitsgericht hervorstreicht - vermutet, dass die Kündigung des in der Namensliste aufgeführten Arbeitnehmers durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist. Im Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs muss sich die Betriebsänderung (allerdings) noch in der Planungsphase befinden, damit dem Betriebsrat entsprechend dem Zweck des § 111 BetrVG eine Einflussnahme auf die unternehmerische Entscheidung möglich ist, wie das Gericht klarstellt, aber von ihm im Streitfall nicht beanstandet wurde.
7. Verwertbarkeit von Kommunikation in einer Chat-Gruppe
Diese Entscheidung zählt ebenfalls zu den Top drei in meinem Ranking für das Jahr 2023: Beide Vorinstanzen hatten der vom Kläger erhobenen Kündigungsschutzklage stattgegeben. Die Revision vor dem Bundesarbeitsgericht am 24. August 2028 (2 AZR 17/23) hatte Erfolg. Der Kläger war seit 2014 mit fünf anderen Arbeitnehmern Mitglied einer WhatsApp-Gruppe. Die Gruppenmitglieder waren befreundet und zum Teil auch verwandt. Neben rein privaten Themen äußerte sich der Kläger in einigen seiner Chatbeiträge – wie auch verschiedene andere Gruppenmitglieder – in beleidigender, fremdenfeindlicher, sexistischer und menschenverachtender Weise über Vorgesetzte sowie Kollegen und rief teilweise zu Gewalt gegen diese auf. Hiervon erfuhr der Arbeitgeber und kündigte. Die Vorinstanzen hatten eine berechtigte Vertraulichkeitserwartung des Klägers betreffend der ihm vorgeworfenen Äußerungen angenommen und das Vorliegen eines Kündigungsgrundes verneint. Falsch, so das Bundesarbeitsgericht: Eine Vertraulichkeitserwartung ist nur dann berechtigt, wenn die Mitglieder der Chatgruppe den besonderen persönlichkeitsrechtlichen Schutz einer Sphäre vertraulicher Kommunikation in Anspruch nehmen können. Das wiederum ist abhängig von dem Inhalt der ausgetauschten Nachrichten sowie der Größe und personellen Zusammensetzung der Chatgruppe.
8. Passgenaue Krankschreibung
Das Bundesarbeitsgericht hat seine Rechtsprechung zum Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen mit der Entscheidung vom 13. Dezember 2023 (5 AZR 137/23) weiter präzisiert. Deren Beweiswert kann erschüttert sein, wenn der arbeitsunfähige Arbeitnehmer nach Zugang der Kündigung eine oder mehrere Folgebescheinigungen vorlegt, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfassen, und er unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt. Hier war das Arbeitsverhältnis mit dem späteren Kläger zum 31. Mai 2022 mit Schreiben vom 2. Mai 2023 durch seinen Arbeitgeber gekündigt worden. Beginnend mit dem 2. Mai 2022 und fortlaufend bis genau zum 31. Mai 2022 legte er Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor. Ab dem 1. Juni 2022 war der Kläger wieder arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung auf. Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung mit der Begründung, der Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei erschüttert. Die Vorinstanzen haben der auf Entgeltfortzahlung gerichteten Klage bis zum 31. Mai 2022 stattgegeben, was das Bundesarbeitsgericht bemängelt: Das Landesarbeitsgericht hat insoweit nicht ausreichend berücksichtigt, dass zwischen der in den Folgebescheinigungen festgestellten passgenauen Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist eine zeitliche Koinzidenz bestand und der Kläger unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufgenommen hat. Dies hat zur Folge, dass nunmehr der Kläger - jedenfalls für einen Großteil der bescheinigten Kranktage - die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 3 Abs. 1 EFZG trägt. Die Sache ist insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
9. Massenentlassung und formelle Fehler
Mein persönliche Nummer 1 im Jahresranking 2023 zur Kündigungsschutzrechtsprechung stammt vom 14. Dezember 2023 (6 AZR 157/22, B). Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts beabsichtigt (endlich), die Rechtsprechung, wonach eine im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134 BGB) unwirksam ist, wenn im Zeitpunkt ihrer Erklärung keine oder auch eine bloß fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt, aufzugeben. Hierin liegt eine entscheidungserhebliche Abweichung zur Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts seit dessen Urteil vom 22. November 2012 (2 AZR 371/11). Nun ist zu im neuen Jahr 2024 klären, ob der Zweite Senat an seiner Rechtsauffassung festhält (Divergenzanfrage): Wir halten Sie unterrichtet.
10. Katholische Hebamme in katholischem Krankenhaus
Dieser Rechtsstreit endete nun mit einem Anerkenntnisurteil zu Lasten des Arbeitgebers vor dem Bundesarbeitsgericht am 19. Dezember 2023 (2 AZR 130/21). Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts hatte beim EuGH die Rechtsfrage vorgelegt, ob ein der katholischen Kirche zugeordnetes Krankenhaus eine Arbeitnehmerin allein deshalb als ungeeignet für eine Tätigkeit als Hebamme ansehen darf, weil sie vor Beginn des Arbeitsverhältnisses aus der katholischen Kirche ausgetreten ist. Denn die Hebamme war am 26. Juli 2019 deswegen gekündigt worden, wogegen sie klagte. Um der befürchteten EuGH-Entscheidung zuvorzukommen, hat der Arbeitgeber nun im deutschen Klageverfahren vor dem Bundesarbeitsgericht anerkannt, dass das Arbeitsverhältnis durch seine Kündigung nicht aufgelöst worden ist.