Die zehn wichtigsten BAG-Entscheidungen zum BetrVG im Jahr 2023
Das Jahr 2023 war auch geprägt durch wichtige Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts zum Betriebsverfassungsrecht. Meine persönliche Auswahl der zehn wichtigsten Entscheidungen aus dem Jahr 2023 stelle ich nachfolgend vor.
1. Regelungssperre des BetrVG, Tarifvorbehalt und Unterlassungsanspruch
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 25. Januar 2023 (4 ABR 4/22) befasst sich mit dem (möglichen) Vorrang tariflicher Regelungen nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG, also der Regelungssperre im Hinblick auf betriebliche Regelungen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber. Diese Entscheidung stellt faktisch eine Stärkung der betrieblichen Regelungsmöglichkeiten dar und nimmt in meinem persönlichen Ranking daher Platz 3 der wichtigsten BetrVG-Entscheidungen ein. Im Jahr 2019 schloss der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung zur Schicht- und Einsatzplanung. Der antragstellenden Gewerkschaft missfiel diese Betriebsvereinbarung und sie machte die Unterlassung von deren Durchführung gerichtlich geltend. Die Vorinstanzen haben die Anträge abgewiesen, wie auch das BAG. Die Betriebsvereinbarung verstößt zwar gegen § 77 Abs. 3 BetrVG, da die Schicht- und Einsatzplanung bereits im Tarifvertrag geregelt war. Es war aber kein grober Verstoß, wie für eine Unterlassungsanordnung nötig. Zudem waren inzwischen (Nachfolge)Tarifverträge abgeschlossen, zumal unter Ermöglichung von betrieblichen Öffnungsklauseln. Der gewerkschaftliche Anspruch auf Unterlassung der Durchführung tarifwidriger Betriebsvereinbarungen (§ 1004 Abs. 1, § 823 Abs. 1 BGB iVm. Art. 9 Abs. 3 GG) erfordert jedoch eine unmittelbare und zwingende Tarifgebundenheit des in Anspruch genommenen Arbeitgebers an die maßgebenden Tarifbestimmungen. Die Tarifverträge, auf welche die Gewerkschaft ihren Unterlassungsanspruch gestützt hat, galten aufgrund ihrer Ablösung durch inzwischen abgeschlossene (Nachfolge)Tarifverträge aber nicht mehr in dieser Weise.
2. Zustimmungs- und Zustimmungsersetzungsverfahren
Der erste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat sich am 14. Februar 2023 (1 ABR 9/22) mit einer betriebliche Vergütungsordnung befasst. Hiernach gilt: Es besteht (nach § 101 BetrVG) kein zukunftsbezogener Anspruch des Betriebsrats gegen den Arbeitgeber im Hinblick auf Einstellungen oder Versetzungen (Ein- oder Umgruppierungen). Der Betriebsrat kann zwar grundsätzlich verlangen, dass bei Personalmaßnahmen gegenüber Arbeitnehmern, die unter den persönlichen Geltungsbereich einer Vergütungsordnung fallen, eine Arbeitgeberentscheidung über die Zuordnung der ausgeübten Arbeitsaufgabe zu den Entgeltgruppen erfolgt (§ 99 Abs. 1 BetrVG). Ebenso kann er verlangen, dass der Arbeitgeber - bei einer form- und fristgerechten Zustimmungsverweigerung - ein Zustimmungsersetzungsverfahren gerichtlich nach § 99 Abs. 4 BetrVG durchführt. Allerdings ergibt sich der Anspruch des Betriebsrats für ein ausschließlich zukunftsbezogenes Leistungsbegehren nicht aus einer entsprechenden Anwendung von § 101 BetrVG, allenfalls aus § 23 Abs. 3 Satz 1 BetrVG.
3. Sozialplan - wirtschaftliche Vertretbarkeit
Ebenfalls der erste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat sich am 14. Februar 2023 (1 ABR 28/21) mit der Dotierung eines Sozialplans befasst, also der finanziellen Ausstattung des Sozialplantopfes. Hiernach gilt, bezogen auf die Bestimmungen in einem Einigungsstellenspruch, welcher den Sozialplantopf (zu hoch) festlegte: Die finanzielle Ausstattung eines Sozialplans ist für das Unternehmen regelmäßig nicht wirtschaftlich vertretbar, wenn die Erfüllung der sich aus ihm ergebenden Verbindlichkeiten zu einer Illiquidität, einer bilanziellen Überschuldung oder einer nicht mehr hinnehmbaren Schmälerung des Eigenkapitals führt.
4. Tarifliche Nachtarbeitszuschläge und Gleichbehandlung
Mit Urteil vom 22. Februar 2023 (10 AZR 332/20) hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass Tarifverträge für unregelmäßige Nachtarbeit höhere Zuschläge vorsehen dürfen als für regelmäßige Nachtarbeit. Zur Schicht- und Einsatzplanung gab es Vereinbarungen mit dem Betriebsrat. Im Fokus der Entscheidung standen aber unterschiedliche Zuschläge hierfür. Tariflich war nämlich geregelt, dass der Zuschlag für regelmäßige Nachtarbeit 20 % und für unregelmäßige (und damit kurzfristig erfolgende) Nachtarbeit hingegen 50 % beträgt. Die Klägerin erhielt für die von ihr geleistete regelmäßige Nachtschichtarbeit nur den Zuschlag iHv. 20 %, verlangte aber ohne Erfolg 50%. Das BAG-Urteil wurde nach einem Umweg über den EuGH gefällt: Es ist im Ermessen der Tarifvertragsparteien, wie sie den Aspekt der schlechteren Planbarkeit für die Beschäftigten, die unregelmäßige (kurzfristig anfallende) Nachtarbeit leisten, finanziell bewerten und ausgleichen. Es ist jedenfalls ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung, wenn erkennbar mit dem höheren Zuschlag neben den spezifischen Belastungen durch die Nachtarbeit auch die Belastungen durch die geringere Planbarkeit eines Arbeitseinsatzes in unregelmäßiger Nachtarbeit ausgeglichen werden.
5. Betriebsrat - Auskunftsanspruch - schwerbehinderte Menschen
Durch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 9. Mai 2023 (1 ABR 14/22) wird die Kompetenz des Betriebsrates zum Schwerbehindertenrecht ausnahmsweise auch auf leitende Angestellte im betriebsverfassungsrechtlichen Sinn erstreckt. Hier war ein Auskunftsanspruch des Betriebsrates einerseits deswegen im Streit, weil er sich auch auf diese Personen bezog, zum anderen, weil der Arbeitgeber Datenschutz einwandte. Der Betriebsrat verlangte nämlich, ihm ein Verzeichnis über alle im Betrieb und Unternehmen beschäftigten schwerbehinderten und diesen gleichgestellten behinderten Menschen zu übermitteln. Der Arbeitgeber erteilte daraufhin nur die Auskunft, der Schwellenwert für die Wahl einer Schwerbehindertenvertretung im Betrieb sei erreicht. Der Betriebsrat obsiegte: Demnach erfasst dessen Aufgabe, die Eingliederung schwerbehinderter Menschen zu fördern (§ 80 Abs. 1 Nr. 4 BetrVG iVm. § 176 SGB IX), auch die leitenden Angestellten, wenn diese leitenden Angestellten der Gruppe der schwerbehinderten und ihnen gleichgestellten Personen in der Belegschaft angehören. Auch datenschutzrechtlich ist dies gedeckt: Soweit § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG vorsieht, dass personenbezogene Daten von Beschäftigten verarbeitet werden dürfen, wenn dies zur Erfüllung eines sich aus dem Gesetz ergebenden Rechts des Betriebsrates erforderlich ist, ist eine hierfür ausreichende Rechtsgrundlage gegeben.
6. Betriebsteilübergang (Spaltung) - Zuordnung der Arbeitnehmer
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 11. Mai 2023 (6 AZR 267/22) betrifft einen Betriebsteilübergang, welcher bekanntlich als Spaltung betriebsverfassungsrechtlich stets zugleich eine Betriebsänderung (§ 111 BetrVG) darstellt. Hier war strittig, letztlich in einem Kündigungsschutzverfahren, die namentliche Zuordnung der Beschäftigten bei diesem Betriebsteilübergang und die hieraus erwachsenden rechtlichen für die Sozialauswahl. Hierzu gilt nun, was zugleich Platz 2 in meinem Entscheidungsranking bedeutet: Die Zuordnung der von einem Betriebsteilübergang betroffenen Arbeitsverhältnisse zu dem übergehenden Betriebsteil erfolgt weder vor dem Übergang noch rückblickend gemäß den Grundsätzen der sozialen Auswahl.
7. Restmandatierter Betriebsrat - Auflösung
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 24. Mai 2023 (7 ABR 21/21) betrifft den Betriebsrat in Ausübung eines Restmandats. Ein Betriebsrat kann in dieser Rolle des Restmandats nicht (mehr) wegen grober Verletzung seiner gesetzlichen Pflichten aufgelöst werden. Möglich ist aber der Ausschluss eines Mitglieds aus dem Betriebsrat wegen grober Verletzung seiner gesetzlichen Pflichten, so dass es von der Wahrnehmung des Restmandats ausgeschlossen ist.
8. Betriebsratsvorsitzender kein Datenschutzbeauftragter (Interessenkonflikt)
Das Bundesarbeitsgericht hat mit seinem Urteil vom 6. Juni 2023 (9 AZR 383/19) geklärt, dass die Stellungen als Datenschutzbeauftragter und als Betriebsratsvorsitzender nicht in einer Person kompatibel sind. Die Unvereinbarkeit beider Ämter stellten einen wichtigen Grund zur Abberufung dar (Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO, Interessenkonflikt). Die hervorgehobene Funktion des Betriebsratsvorsitzenden hebt die zur Erfüllung der Aufgaben eines Datenschutzbeauftragten erforderliche Eignung im datenschutzrechtlichen Sinne auf.
9. Unwirksame Betriebsratswahl bei Verkennung des Betriebsbegriffs
Das Bundesarbeitsgericht hat sich in der Entscheidung vom 21. Juni 2023 (7 ABR 19/22) mit einer angefochtenen Betriebsratswahl befasst. Der Arbeitgeber hatte geltend gemacht, er unterhalte mit seinen landesweiten Einrichtungen keinen einheitlichen Betrieb (so war gewählt worden), sondern mindestens 14 separate Betriebe gemäß § 1 BetrVG. Es gab und gibt zwar einen Zuordnungstarifvertrag, welcher einen einheitlichen Betrieb als Organisationsstruktur vorsieht. Diese tariflich festgelegte Struktur sei aber wegen zwischenzeitlicher Umstrukturierungen längst nicht mehr gültig. Dem folgte das Bundesarbeitsgericht: Selbst wenn einen Tarifvertrag formell nur die Tarifvertragsparteien ändern können, ist die betriebsverfassungsrechtliche Struktur zur Wahl maßgebend. Deswegen war nach den zwischenzeitlichen Umstrukturierungen - auch wenn der Zuordnungstarifvertrag formell noch galt - nicht mehr einheitlich ein Betriebsrat nach dieser tariflichen Festlegung zu wählen. Darin liegt ein Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften (Verkennung des Betriebsbegriffs).
10. Kein Verwertungsverbot bei offener Videoüberwachung
Das Bundesarbeitsgericht hat am 29. Juni 2023 (2 AZR 296/23) entschieden, dass in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren (Kündigungsschutzklage) kein Verwertungsverbot besteht, auch wenn dies in einer Betriebsvereinbarung so vorgesehen war. Hier ging es um Videoaufzeichnungen, welche einen Arbeitszeitbetrug belegen. Dieses Urteil war schon in meiner zurückliegenden Auflistung der zehn wichtigsten Entscheidungen zum Kündigungsrecht aus 2023 enthalten, ist aber auch in meine Auflistung zum BetrVG zwingend aufzunehmen und nimmt hier sogar Platz 1 im Ranking aufgrund seiner Bedeutung ein. Denn es gab (hierzu) eine Betriebsvereinbarung über die Einführung einer elektronischen Anwesenheitserfassung, wonach gerade keine personenbezogene Auswertung von Daten erfolgt. Das lässt das Bundesarbeitsgericht aber als Verwertungsverbot nicht gelten. Die Videoaufzeichnungen (über offen angebrachte Kameras auf dem Betriebsgelände) bleiben ein geeigneter Beweis: Denn die entgegenstehende Auslegung sei kaum mit dem in § 2 Abs. 1 BetrVG genannten Wohl des Betriebs als Ziel der Zusammenarbeit zwischen den Betriebsparteien vereinbar. Selbst ein Verstoß des Arbeitgebers gegen das in der Betriebsvereinbarung eigens bestimmte Auswertungsverbot führt nicht dazu, dass es den Arbeitsgerichten verwehrt wäre, die in den Rechtsstreit eingeführten Erkenntnisse ihrer Entscheidung zugrunde zu legen. Denn den Betriebsparteien fehlt die Regelungsmacht, ein gerichtliches Verwertungsverbot in einer Betriebsvereinbarung zu begründen. Den Betriebsparteien fehlt die Befugnis zu Eingriffen in das gerichtliche Verfahren. Das bringt deswegen Platz 1 in meinem BetrVG-Ranking und bedeutet für die Gestaltungspraxis: In Betriebsvereinbarungen kann keine Bestimmung zu einem arbeitsgerichtlichen Verwertungsverbot rechtswirksam untergebracht werden.