Ein Paukenschlag vom BAG: Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ist schon da!
Der Ausgangsfall
Eigentlich ging es in dem Verfahren um etwas anderes. Betriebsrat und Arbeitgeber stritten darüber, ob dem Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ein Initiativrecht bei der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung zusteht oder nicht. Der Betriebsrat hatte dies verlangt, um die Beschäftigten einer vollstationären Wohneinrichtung vor übermäßigen Arbeitszeiten zu schützen. Nach dem Scheitern der Verhandlungen, wollte der Betriebsrat eine Einigungsstelle hierzu einsetzen lassen. Das Arbeitsgericht Minden lehnte die Initiative des Betriebsrats ab. Das Landesarbeitsgericht Hamm dagegen bestätigte entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahre 1989 mit Beschluss vom 27.07.2021 (7 TaBV 79/20) die Sichtweise des Betriebsrats und wollte die Einigungsstelle einsetzen.
Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts
Der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts drehte mit seinem Beschluss vom 13.09.2022 (1 ABR 22/21) unter dem Vorsitz der Präsidentin Frau Inken Gallner das Ganze wieder um und blieb dabei, dass dem Betriebsrat kein Initiativrecht zur Einführung einer elektronischen Zeiterfassung zusteht.
Nun mag sich die Arbeitgeberin im ersten Moment gefreut haben, die Begründung des Senats wird jedoch das Arbeitgeberlager aufhorchen lassen: So verwies das oberste deutsche Arbeitsgericht darauf, aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG folge bereits die Verpflichtung der Arbeitgeber, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden könne: als Ergebnis einer unionsrechtskonformen Auslegung der Norm. Vor dem Hintergrund einer bestehenden gesetzlichen Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung sei ein Initiativrecht des Betriebsrats im Rahmen der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG („Einführung einer technischen Überwachungseinrichtung“) ausgeschlossen.
Warten auf den Gesetzgeber
Damit kommt das Bundesarbeitsgericht dem deutschen Gesetzgeber zuvor, der noch eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes prüfen wollte. Im Koalitionsvertrag von SPD, Grüne und FDP heißt es dazu: „Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z. B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein.“
Die Entscheidung, auf die insoweit Bezug genommen wird, stammt vom EuGH aus dem Jahre 2019 (Urteil vom 14.05.2019, C – 55/18). Seitdem redet die Politik davon, auch in Deutschland die Arbeitszeiterfassung zu regeln.
Bedeutung für die Praxis
Nun hat das Bundesarbeitsgericht eine bereits bestehende gesetzliche Pflicht zur Arbeitszeiterfassung in § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG erkannt – ohne Vertrauensschutz oder Fristen zur Umsetzung, auf die sich Arbeitgeber einstellen könnten. Mit jedem Tag ohne Arbeitszeiterfassung verstößt der Arbeitgeber gegen die Regeln zum Arbeitsschutz. Es ist davon auszugehen, dass jetzt nach Maßgabe von § 16 Abs. 2 ArbZG die zur Überwachung aufgerufenen Behörden Aufzeichnungen der Arbeitszeit sehen wollen, Nachweise, die mindestens zwei Jahre aufzubewahren sind. Anderenfalls droht ein Bußgeld nach § 22 Abs. 1 Nr. 9 ArbZG.
Es besteht also Handlungsbedarf. Die Frage ist, ob und wann der Gesetzgeber handelt und versucht, europarechtskonform nicht allein das „Ob“ der Arbeitszeiterfassung zu regeln, sondern vor allem auch das „Wie“. So lange wird der rechtstreue Arbeitgeber aber nicht warten können und die Arbeitszeiterfassung früher in Angriff nehmen müssen. Aber Achtung: es mag zwar kein Initiativrecht des Betriebsrats bestehen, aber geht der Arbeitgeber das Thema von sich aus an und will eine elektronische Arbeitszeiterfassung im Betrieb einführen, dann nicht ohne die Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG. Das „Wie“, sprich die Ausgestaltung im Einzelnen einer solchen Erfassung ist und bleibt mitbestimmt und landet uU am Ende in der Einigungsstelle.
Home-Office und Vertrauensarbeitszeit am Ende?
Und das Thema hat es in sich: zu erfassen ist selbstverständlich auch die Arbeitszeit im „Home-Office“ und bei der sog. Vertrauensarbeitszeit. Zu erfassen ist auch die Arbeitszeit an Wochenenden oder abends, wenn doch noch schnell etwas zu Hause erledigt wird, sprich die letzten E-Mails gecheckt und beantwortet werden. Nach dem zitierten Willen der „Ampel“ sollen aber flexible Arbeitszeitmodelle weiterhin möglich sein.
In der betrieblichen Praxis werden sich nun zahlreiche bisher unbeachtete Fragestellungen ergeben. Dabei bleibt abzuwarten, ob sich mancher Beschäftigter in „Remote Work“ oder ähnlichen Arbeitsformen nicht doch wieder die alten „unbeobachteten“ Verhältnisse zurückwünscht.