Fehlerhafte Massenentlassungsanzeige – Abkehr von den bisherigen Rechtsfolgen?
In einem Verfahren vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts (6 AZR 157/22, B) streiten die Parteien über die Auflösung ihres Arbeitsverhältnisses durch eine ordentliche Kündigung, die der Beklagte im Dezember 2020 zum 31. März 2021 erklärt hat. Eine nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige hatte er nicht erstattet. Er hat sie auch vor dem 31. März 2021 nicht nachgeholt.
Unser Kollege Dr. Martin Pröpper berichtete bereits im Blogbeitrag vom 20. Dezember 2023, dass der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts im Zuge dieser Entscheidung beabsichtigt, die Rechtsprechung, wonach eine im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot gem. § 134 BGB unwirksam ist, wenn im Zeitpunkt ihrer Erklärung keine oder auch eine bloß fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt, aufzugeben.
Da die vorgeschlagene Änderung in der Rechtsprechung bezüglich der Anzeige von Massenentlassungen von der bisherigen Linie, auch jener des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts seit dessen Urteil vom 22. November 2012 (Aktenzeichen: 2 AZR 371/11), abweichen würde, hat der Sechste Senat eine sogenannte Divergenzanfrage an den Zweiten Senat gerichtet. Denn gemäß § 45 Abs. 3 ArbGG ist es grundsätzlich erforderlich, dass ein Senat des Bundesarbeitsgerichts, der von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen möchte, zunächst bei diesem Senat anfragt, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsauffassung festhält.
Bisherige Rechtslage
Art. 6 der MERL (Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG vom 2.7.1998) verpflichtet die Mitgliedstaaten, für hinreichend wirksame Sanktionen bei Fehlern im Massenentlassungsverfahren zu sorgen, um so die Wirksamkeit des Massenentlassungsschutzes zu gewährleisten. Welche Sanktionen das im Einzelnen sind, regelt die Richtlinie nicht. Insoweit haben die Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie die Wahl, welche Sanktionen sie verhängen und welche Verfahrensregelungen sie insoweit treffen. Weder §§ 17 ff. KSchG noch die MERL enthalten Regelungen für den Fall einer fehlenden oder unzureichenden Massenentlassungsanzeige. Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts hat bisher angenommen, dass eine ohne notwendige vorherige Massenentlassungsanzeige erklärte Kündigung unwirksam ist und das Arbeitsverhältnis deshalb nicht beenden kann. Es nimmt in solchen Fällen nach § 134 BGB die Nichtigkeit der Kündigung an. Das gilt auch für Änderungskündigungen, wenn der Arbeitnehmer das Änderungsangebot abgelehnt hat. Insoweit sollen Fehler im Rahmen der sog. „Muss-Angaben“ grundsätzlich zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige führen. Das soll auch für den Fall gelten, dass der Arbeitgeber den Betriebsbegriff verkennt, die Anzeige in der Folge für einen falschen Betrieb erstattet und sich die Angaben deshalb als unrichtig erweisen.
Demgegenüber möchte der Sechste Senat künftig die Auffassung vertreten, dass das Fehlen oder die Fehlerhaftigkeit einer nach Unionsrecht oder nationalem Recht erforderlichen Massenentlassungsanzeige keinen rechtlichen Einfluss auf die Entscheidung über die Beendigung eines gekündigten Arbeitsverhältnisses hat. Vielmehr soll sowohl das Fehlen einer Massenentlassungsanzeige als auch deren Fehlerhaftigkeit gänzlich folgenlos bleiben.
Die Entscheidung des Zweiten Senats (1. Februar 2024 – 2 AS 22/23 (A))
Der Zweite Senat hat nun das Anfrageverfahren ausgesetzt und den Europäischen Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren um die Beantwortung mehrerer Fragen ersucht. Die Antworten des Europäischen Gerichtshofs auf folgende Fragen sieht er als maßgeblich an, bevor es sich mit der Divergenzanfrage befassen kann:
„1. Ist Art. EWG_RL_98_59 Artikel 4 Abs. EWG_RL_98_59 Artikel 4 Absatz 1 der RL 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) dahin auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist?
Sofern die erste Frage bejaht wird:
2. Setzt das Ablaufen der Entlassungssperre nicht nur eine Massenentlassungsanzeige voraus, sondern muss diese den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL genügen?
3. Kann der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen hat, eine solche mit der Folge nachholen, dass nach Ablaufen der Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können?
Sofern die erste und die zweite Frage bejaht werden:
4. Ist es mit Art. 6 MERL vereinbar, wenn das nationale Recht es der zuständigen Behörde überlässt, für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend festzustellen, wann die Entlassungssperre im konkreten Fall abläuft, oder muss dem Arbeitnehmer zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Feststellung eröffnet sein?“
Ausgehend von diesen Fragen kann auch aus der Entscheidung des Zweiten Senats entnommen werden, wie dieser sich im Anfrageverfahren gegenüber dem Sechsten Senat positionieren wird. Im Falle, dass keine Massenentlassungsanzeige erstattet wurde, vertritt der Zweite Senat die Meinung, dass die rechtlichen Folgen einer durch den Arbeitgeber ausgesprochenen Kündigung erst wirksam werden, sobald die Massenentlassungsanzeige nachträglich eingereicht wird. Dies ermöglicht der Agentur für Arbeit, die erforderliche Zeit für die Vorbereitung von Vermittlungsmaßnahmen zu haben. Das Arbeitsverhältnis bleibt bis zum Ende der gesetzlichen Entlassungssperre mit allen Rechten und Pflichten bestehen. Arbeitgebern bliebe so die Möglichkeit, Fehler im Anzeigeverfahren zu korrigieren, bevor die jeweiligen Kündigungsfristen abgelaufen sind. Sollte gemäß Art. 4 MERL jedoch keine Möglichkeit bestehen, eine unterbliebene Massenentlassungsanzeige nach Erhalt der Kündigung nachzureichen und somit die Entlassungssperre zu beseitigen, ist weiterhin von einer Unwirksamkeit der Kündigung auszugehen.
Wird zudem die vierte Frage positiv beantwortet, obliegt es der Agentur für Arbeit zu entscheiden, wann die Entlassungssperre endet, ohne dass Arbeitnehmer im Einzelfall eine abweichende Auffassung gerichtlich durchsetzen könnten. Arbeitnehmer sollen ihr Arbeitsverhältnis erst verlieren, nachdem es der zuständigen Behörde auf der Grundlage der erforderlichen Angaben möglich war, nach Lösungen für die durch die Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen. Sieht die Behörde sich diesbezüglich ausreichend informiert, haben der Arbeitnehmer und die Gerichte dies zu akzeptieren. Arbeitgeber könnten sich somit auf die Mitteilung der Agentur für Arbeit über das Ende der Entlassungssperre verlassen. Diese amtliche Festlegung zum Abschluss der Sperrfrist müsste von den Arbeitsgerichten in einem Rechtsstreit über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber als verbindlich angesehen werden. Eine gerichtliche Anfechtung dieser behördlichen Entscheidung durch den Arbeitnehmer wäre nicht möglich.
Empfehlung für die Praxis
Solange eine Abkehr von den bisherigen Rechtsfolgen fehlerhafter Anzeigen nicht höchstrichterlich bestätigt wird, ist zur Vermeidung von Nachteilen der bisherigen Rechtsprechung des BAG zu folgen.
Arbeitnehmer sollten die fehlende oder mangelhafte Massenentlassungsanzeige innerhalb der Frist des § 4 S. 1 KSchG geltend machen.
Gleichzeitig hat das Gericht derartige Unwirksamkeitsgründe, wenn sie sich bereits ohne Rüge des Arbeitnehmers aus dem Vortrag des Arbeitgebers ergeben, von Amts wegen zu berücksichtigen.
Arbeitgeber müssen das Konsultationsverfahren gem. § 17 Abs. 2 KSchG abgeschlossen und das Anzeigeverfahren nach §§ 17 Abs. 3, 18 KSchG durchgeführt haben, bevor eine Kündigung im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochen wird.