Noch einmal zur Arbeitszeit: Wie das LAG München an die gefestigte Rechtsprechung des BAG zum Verhältnis zwischen Vertrauensarbeitszeit und Dokumentationspflichten erinnert
Die „Arbeitszeit“ und ihre Erfassung durch den Arbeitgeber stehen derzeit einmal wieder im Mittelpunkt vieler arbeitsrechtlicher Diskussionen. Aktueller Anlass ist dafür die auch in diesem Blog schon vorgestellte „Paukenschlag“-Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 13.09.2022 (Az. 1 ABR 22/21). In dieser hatte das BAG festgestellt, dass Arbeitgeber schon heute gesetzlich verpflichtet sind, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmer*innen geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann. Rechtsanwalt Christian Kaiser stellt eine wichtige und aktuelle Entscheidung des LAG München zur Auskunft gegenüber dem Betriebsrat dar, die man dazu kennen muss.
Dass eine solche Pflicht nach Auffassung des BAG aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) resultiert, war sicher für die meisten im Arbeitsrecht Tätigen eine neue Erkenntnis. Nicht neu, sondern bereits fast 20 Jahre alt ist hingegen die Feststellung des BAG, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, ihrem Betriebsrat auf dessen Verlangen umfassend Auskunft zu geben über die Arbeitszeit der Arbeitnehmer*innen. Diese im Beschluss vom 06.05.2003 (Az. 1 ABR 13/02) titulierte Auskunftspflicht beschränkt sich nicht auf die über werktäglich acht Stunden hinausgehende Arbeitszeit, wie sie in § 16 Abs. 2 Satz 1 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) geregelt ist. Vielmehr muss der Arbeitgeber dafür Sorge tragen, dass auch Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit an jedem Arbeitstag sowie jede Über- und Unterschreitung der regelmäßigen betrieblichen wöchentlichen Arbeitszeit erfasst werden. Da eine entsprechende Auskunft nur dann erteilt werden kann, wenn die besagten Daten auch erfasst und dokumentiert worden sind, führt die genannten Entscheidung des BAG faktisch dazu, dass eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung jedenfalls in den Betrieben besteht, in denen es einen Betriebsrat gibt.
Das LAG München hat diese – womöglich bei einigen Arbeitgebern und Betriebsräten etwas in Vergessenheit geratene - Entscheidung aus dem Jahr 2003 in einem am 11.07.2022 verkündeten Beschluss (Az. 4 TaBV 9/22) wieder in Erinnerung gerufen. Solange das BAG die Begründung des „Paukenschlags“ noch nicht veröffentlicht hat, lohnt ein Blick auf die Entscheidung des LAG München, um sich daran zu erinnern, mit welcher Begründung und in welchem Umfang der Erste Senat des BAG im Jahr 2003 die Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung angenommen hat.
Das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) legt in § 80 Abs. 2 fest, dass der Arbeitgeber den Betriebsrat umfassend unterrichten und ihm (grundsätzlich nur vorhandene) Unterlagen zur Verfügung stellen muss, soweit der Betriebsrat beides benötigt, um seine gesetzlichen Aufgaben erfüllen zu können. Eine dieser Aufgabe ist nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG die Überwachung von Schutzvorschriften zugunsten der Arbeitnehmer*innen, die beispielsweise in Gesetzen, Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen geregelt sein können. Ein solches Schutzgesetz ist auch das Arbeitszeitgesetz (ArbZG), in dem Vorgaben zur täglichen Höchstarbeitszeit sowie zu Pausen- und Ruhezeiten enthalten sind. Wenn der Betriebsrat kontrollieren möchte, ob diese Schutzvorschriften über die Arbeitszeit in seinem Betrieb eingehalten werden, muss er in der Lage sein, für alle von ihm betreuten Arbeitnehmer*innen im Detail die geleistete Arbeitszeit zu bewerten. Das wiederum kann er nur dann sachgerecht tun, wenn er den Beginn und das Ende der täglichen Arbeitszeit kennt und über die tatsächlich in Anspruch genommenen Pausen sowie über die Ruhezeiten informiert ist.
In dem Sachverhalt, den das LAG München zu beurteilen hatte, lag die Problematik darin, dass eine Betriebsvereinbarung existierte, die den Arbeitnehmer*innen im Vertriebsaußendienst das Recht einräumt, unter Beachtung der betrieblichen Erfordernisse und der jeweiligen Kundenanforderungen innerhalb eines definierten Arbeitszeitrahmens selbst zu bestimmen, wann sie die Arbeit aufnehmen und beenden. Gleichzeitig enthielt die Betriebsvereinbarung die Verpflichtung, die Vorgaben des ArbZG über die maximal zulässige tägliche Arbeitszeit und die erforderlichen Pausen einzuhalten sowie alle Arbeitstage aufzuschreiben, an denen mehr als acht Stunden – exklusive Pausen – gearbeitet worden ist. Eine weitergehende Dokumentation der Arbeitszeit musste nicht erstellt werden. Die Aufzeichnungen waren vom Arbeitgeber aufzubewahren.
Als der Betriebsrat eines Tages eine ausführliche Auskunft über Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer*innen im Vertriebsaußendienst einschließlich jeder Über- und Unterschreitung der regelmäßigen betrieblichen wöchentlichen Arbeitszeit verlangte, berief sich der Arbeitgeber auf die in der Betriebsvereinbarung vereinbarte Vertrauensarbeitszeit. Die vom Betriebsrat geforderten Informationen verunmöglichten die Umsetzung der Vertrauensarbeitszeit. Da in der Betriebsvereinbarung sogar vorgesehen sei, dass keine Arbeitszeitaufzeichnungen erfolgen sollten, sei ihr sei die Erteilung der Auskunft unmöglich; sie verfüge über diese Informationen nicht.
Das LAG München war von dieser Argumentation nicht überzeugt.
Zunächst ergebe sich der grundsätzliche Informationsanspruch des Betriebsrats unzweifelhaft aus § 80 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 BetrVG. Die Erfüllung des Anspruchs sei dem Arbeitgeber nicht unmöglich. Die Tatsache, dass er die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer*innen nicht erfasst, stehe dem Anspruch nicht entgegen. Auch wenn die Betriebsvereinbarung die Arbeitnehmer*innen nur zu einer Aufschreibung derjenigen Arbeitstage verpflichtet, in denen sie mehr als acht Stunden gearbeitet haben, sei damit noch nichts über die Pflicht des Arbeitgebers gesagt, dem Betriebsrat Auskunft zu geben.
Zwar ist eine Information gem. § 80 Abs. 2 BetrVG grundsätzlich nur dann zur Verfügung zu stellen, wenn der Arbeitgeber tatsächlich über sie verfügt. Doch gelte dann etwas anderes, wenn der Arbeitgeber die notwendigen Daten nur deshalb nicht hat, weil er sie nicht erheben will. Die Zurückhaltung der Erhebung im Zusammenhang mit der Vertrauensarbeitszeit sei ein Zugeständnis des Arbeitgebers gegenüber seinen Arbeitnehmer*innen, das nicht das betriebsverfassungsrechtliche Verhältnis zum Betriebsrat beeinflussen könne. Dies gelte umso mehr, als die Informationen jedenfalls bei den Arbeitnehmer*innen liegen und vom Arbeitgeber unschwer beschafft werden können. In einem solchen Fall könne die den Arbeitnehmer*innen versprochene Zurückhaltung in Form der Vertrauensarbeitszeit dadurch eingehalten werden, dass der Arbeitgeber auf inhaltliche Kontrolle der Angaben verzichte. Das LAG München verweist insoweit konkret auf die eingangs bereits erwähnte Entscheidung des BAG vom 06.05.2003.
Es soll an dieser Stelle nicht darüber spekuliert werden, wie das BAG seine „Paukenschlag“-Entscheidung vom 13.09.2022 wohl begründen wird. Interessanter dürfte die Frage sein, welche Konsequenzen grundsätzlich daraus zu ziehen sind, dass der Erste Senat des BAG unter seiner neuen Vorsitzenden eine aus der unionsrechtskonformen Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG resultierende gesetzliche Verpflichtung der Arbeitgeber annimmt, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer*innen zu erfassen. Dass eine Erfassung der Arbeitszeit aller Arbeitnehmer*innen erfolgen muss, die in den Anwendungsbereich des ArbZG fallen, steht nach der Entscheidung des BAG fest. Die Frage ist dabei, welche Regelungsspielräume erhalten bleiben und welche Regelungsnotwendigkeiten sich verstärkt oder neu ergeben.
Der Begriff der „Arbeitszeit“ hat unterschiedliche rechtliche Dimensionen, die sorgfältig auseinandergehalten werden müssen.
Da ist zum einen die Dimension des Arbeitsschutzes. Hier ist relevant, welche aus der Erbringung der Arbeitsleistung resultierende Belastung gesundheitlich vertretbar ist. Unter diesem Aspekt regelt etwa das ArbZG, welche Grenzen bei der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit einzuhalten sind. Auf den Aspekt des Gesundheitsschutzes bezieht sich auch das ebenfalls viel beachtete Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14.05.2019 (Az. C-55/18), wonach Arbeitgeber gegenüber ihren Arbeitnehmer*innen zur Erfassung der Arbeitszeit verpflichtet sind. Wegen der Zielsetzung des Gesundheitsschutzes sind die arbeitsschutzrechtlichen Grenzen der Arbeitszeit relativ unflexibel. In der Praxis ergeben sich häufig Unschärfen bei der Abgrenzung zwischen „Bereitschaftsdienst“ (in der auch das Bereithalten für die Arbeitsleistung umfassend als Arbeitszeit zählt) und „Rufbereitschaft“ (in der nur die erbrachte Arbeitsleistung, nicht aber das Bereithalten als Arbeitszeit zählt).
Die „Arbeitszeit“ hat daneben auch eine vergütungsrechtliche Dimension. Hier geht es um die Frage, ob und in welchem Umfang den Arbeitnehmer*innen für bestimmte Tätigkeiten, die sie im Interesse des Arbeitgebers verrichten, eine Vergütung zusteht. Hier ist beispielsweise in der Vergangenheit häufig diskutiert worden, ob Reisezeiten als Arbeitszeit vergütet werden müssen. Das BAG hat diese Frage in den letzten Jahren immer grundsätzlicher bejaht. Allerdings ist in der Praxis festzustellen, dass jedenfalls in den Arbeitsverhältnissen mit einem traditionell hohen Anteil an Reisezeit häufig Arbeitszeitmodelle mit viel „Gestaltungsspielraum“ für die Arbeitnehmer*innen und wenig Dokumentation zu finden sind, beispielsweise im Außendienst. Für derartige Konstellationen hat das BAG etwa in einem Urteil vom 18.03.2020 (Az. 5 AZR 36/19) darauf hingewiesen, dass mit der Einordnung von Reisezeiten als Teil der erbrachten Arbeitsleistung noch nicht geklärt ist, wie die dafür von den Arbeitnehmer*innen aufgewendete Zeit zu vergüten sei. Für Reisezeiten könne durch Arbeits- oder Tarifvertrag nämlich sehr wohl eine andere Vergütungsregelung als für die „eigentliche“ Tätigkeit getroffen werden. Dabei könne sogar eine Vergütung für Reisezeiten ganz ausgeschlossen werden, sofern mit der getroffenen Vereinbarung nicht der für tatsächlich geleistete vergütungspflichtige Arbeit nach § 1 Abs. 1 Mindestlohngesetz (MiLoG) zustehende Anspruch auf den Mindestlohn unterschritten wird. Sofern es aber keine ausdrückliche Vereinbarung darüber gibt, wie die „Reisearbeitszeit“ einerseits und die „eigentliche“ Tätigkeit andererseits vergütet wird, ist für die gesamte Arbeitszeit derjenige Stundensatz maßgeblich, der sich aus der arbeits- oder tarifvertraglich maßgeblichen Vergütung errechnet.
Hingewiesen sei noch kurz auf den Umstand, dass Reisezeiten zwar in der Regel immer als Arbeitszeit im vergütungsrechtlichen Sinn anzusehen sind, die Beurteilung im arbeitsschutzrechtlichen Sinn aber ganz anders ausfallen kann. Etwa dann, wenn die Reise im Zug oder Flugzeug erfolgt, es keine Anweisung gibt, wie diese Zeit inhaltlich zu nutzen ist, und die Arbeitnehmer*innen mithin während der Reise auch lesen oder schlafen können, liegt keine Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinn vor.
Berücksichtigt man die bisherige Rechtsprechung des BAG und nimmt die neuerlichen Hinweise des LAG München aus der beschriebenen Entscheidung vom 11.07.2022 hinzu, so kann man feststellen, dass die „Paukenschlag“-Entscheidung des BAG vom 13.09.2022 wahrscheinlich nicht zum Ende von Home-Office und Vertrauensarbeitszeit führen wird. Die Flexibilisierung der Arbeitsleistung wird sicher auch weiterhin möglich sein. Allerdings wird zukünftig ein höherer Aufwand an Dokumentation der Arbeitszeit betrieben werden müssen und viele Arbeits- und Tarifvertragsparteien werden differenzierte Vereinbarungen darüber treffen müssen, wie die umfassend dokumentierte Arbeitszeit vergütet wird.
Ein Problem ist dabei weiterhin ungelöst. Wann „Rufbereitschaft“ vorliegt und wann „Bereitschaftsdienst“, bleibt auch zukünftig häufig schwierig abzugrenzen. Ob es sich in derartigen Konstellationen um Arbeitszeit im arbeitsschutz- und im vergütungsrechtlichen Sinn handelt oder nicht, wird eine Wertungsfrage bleiben, die eher zu mehr als zu weniger Konflikten führen wird, wenn eine Dokumentation der Arbeitszeit für die meisten Arbeitsverhältnisse vorgeschrieben ist.